Die Sinnlichkeit des Lehms: Zwischen Tradition und Innovation
Erscheinungsdatum: 11.11.2025
Julia Hausmann
Lehm ist mehr als nur ein Baustoff – er ist ein kulturelles Erbe, ein ökologisches Versprechen und eine Quelle für atmosphärische, nachhaltige und gesunde Räume.
Galt er lange vielerorts als ein „vergessenes“ Material, das im Zuge industrieller Standardisierung verschwand oder hinter Putzschichten verborgen wurde, erlebt Lehm als regionales Baumaterial heute eine bemerkenswerte Renaissance.
Nach meinem letzten Beitrag „Zwischentöne – leise Farbkonzepte in der (Innen-)Architektur“ möchte ich diesmal einem Material Raum geben, das selbst von feinen Nuancen lebt: Lehm. Er ist erdig, warm, wandelbar – und trägt eine besondere Aura von Ruhe in sich. Als Farb- und Materialelement ist er nicht nur von architektonischer Relevanz, sondern auch für das gesunde Wohnen von großer Bedeutung.
Lehm ist ein Baumaterial, das alle Sinne anspricht. Schon beim Betreten eines Raumes mit Lehmoberflächen spürt man eine besondere Ruhe: die Haptik ist weich und erdig, das Licht wird sanft gestreut, die Atmosphäre wirkt warm und behaglich. Gleichzeitig leistet Lehm einen entscheidenden Beitrag zur Gesundheit. Er reguliert die Luftfeuchtigkeit, puffert Temperaturschwankungen und schafft dadurch ein stabiles, angenehmes Raumklima und fügt sich als material nahtlos dem aktuellen Diskurs des Biophilen Bauens ein. Studien zeigen, dass diese Qualitäten Stress reduzieren und das Wohlbefinden fördern können. Gerade in Zeiten des demografischen Wandels ist dies von hoher Relevanz: Ältere Menschen profitieren von einer konstanten, reizarmen und geborgenen Wohnumgebung. Auch in Räumen für Menschen mit Demenz können die natürliche Haptik und Farbigkeit des Lehms Orientierung und Sicherheit geben.
Aus ökologischer Sicht überzeugt Lehm mit einzigartigen Eigenschaften: Er benötigt kaum Energie in der Herstellung, ist vollständig recycelbar und fügt sich harmonisch in regionale Stoffkreisläufe ein. Anders als viele konventionelle Baustoffe erzeugt er keinen Sondermüll, sondern kann wieder und wieder in den Kreislauf zurückgeführt werden. Damit steht er beispielhaft für eine Baukultur, die sich nicht gegen die Natur stellt, sondern mit ihr arbeitet.

Das von Vier Arquitectos gebaute öffentliche Hallenbad in Toro (Zamora), Spanien schützt sich durch seine Stampflehm-Außenwände vor äußeren klimatischen Einflüssen und unerwünschten Blicken.
Frauen, Baukultur und Selbstermächtigung
Der Baustoff Lehm ist eng mit weiblichen Bautraditionen verbunden. In vielen Regionen der Welt waren und sind es Frauen, die Häuser aus Erde errichten, instandhalten und gestalten.
Dies verdeutlichte im Rahmen des Woman in Architecture Festival WIA 2025 ein gemeinsamer Beitrag der Uni Liechtenstein // Earth HUB, Bauhaus der Erde und dem Deutsches Farbenzentrum mit dem Titel „Female African Architects“: Im Forschungspavillion ProtoPotsdam wurde anhand einer Ausstellung gezeigt, wie Maasai-Baumeisterinnen aus Ololosokwan mit selbstbewusstem, lokalem Handwerk moderne Bauweisen entwickeln – ressourcenschonend und zugleich identitätsstiftend. Der Blick auf solche vernakulären Traditionen macht deutlich, das Lehm nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern auch ein Medium sozialer Selbstermächtigung ist.

Die Hüttenbauten der Maasai-Baumeisterinnen aus Ololosokwan (Tansania) zeigen eine regenerative, kulturell verwurzelte Baupraxis.
Farbwelten aus Erde und Pigmenten
Lehm lebt von seinen Nuancen. Abhängig von Mineralien, Eisenverbindungen oder Humusgehalt variieren seine Farbtöne von zartem Beige über warmes Ocker bis hin zu tiefem Rot oder Graubraun. Jede Region bringt ihre eigene Farbpalette hervor: In Mitteleuropa dominieren gelbliche bis graue Töne, in Südeuropa leuchtende Rot- und Ockertöne, während in Westafrika kräftiges Terrakotta die Architektur prägt. Diese natürliche Farbigkeit wird durch mineralische Pigmente ergänzt – Eisenoxide, Kalk, Indigo, Ruß oder Ziegelmehl –, die nachhaltige, ökologische Alternativen zu synthetischen Farbstoffen darstellen.

Lehmputzworkshop im Rahmen eines gemeinsamen Beitrags der Uni Liechtenstein // Earth HUB, Bauhaus der Erde und dem Deutsches Farbenzentrum für das WIA Festival 2025 mit dem Titel „Female African Architects“ (Forschungspavillion ProtoPotsdam)
Besonders spannend ist, wie Lehm an der Schnittstelle von Tradition und Innovation neu gedacht wird. Auf der Architektur-Biennale 2025 in Venedig zeigten internationale Forschungsteams, wie sich der Baustoff mit digitalen Verfahren kombinieren lässt:
- Earthen Rituals der Columbia University und des Unternehmens WASP experimentierte mit großformatigem 3D-Druck, bei dem Lehm mit landwirtschaftlichen Nebenprodukten und Recyclingmaterialien kombiniert wurde. So entstanden Fliesen, die nicht nur funktional, sondern auch sinnlich erfahrbar waren – durch Licht, Duft und Haptik.
- Der marokkanische Pavillon „Materiae Palimpsest“ machte deutlich, wie traditionelles Lehmbauhandwerk (Rammed Earth, Adobe, Cob) mit modernen Medien wie Hologrammen oder Textilkunst in Dialog treten kann. Es entstand ein Manifest, das für eine Architektur plädiert, die Gemeinschaft, Geschichte und Zukunft zugleich in sich trägt.
- Forschungsprojekte von MIT und ETH Zürich entwickelten modulare Strukturen, die entweder durch biologische Prozesse – wie das Einbetten von Pflanzen in Lehmschichten – oder durch innovative Materialkombinationen neue Perspektiven auf Kreislaufbauweisen eröffneten.

Die Installation „Earthen Rituals“ versteht sich als gestalterische Antwort auf ökologische, soziale und politische Fragestellungen und weckte reges Interesse bei den Besucherinnen der diesjährigen Architekturbiennale.
Diese Beispiele zeigen: Lehm ist kein Relikt der Vergangenheit, sondern ein zukunftsweisendes Material. Durch die Verbindung mit 3D-Druck, Prefab-Methoden oder biobasierten Zusatzstoffen entsteht ein Bauprinzip, das sowohl global relevant als auch lokal anpassbar ist.
Die Zukunft des Bauens ist nicht nur digital und hochtechnologisch – sie ist auch analog, haptisch und menschlich. Lehm zeigt uns den Weg zu einer Architektur, die beide Welten miteinander versöhnt.

Bauen im Einklang mit der Natur: Die in traditioneller Lehmbauweise erbaute Stadt Aït Benhaddou in Marokko ist UNSECO Weltkulturerbe. Die Kasbah-Archiktekur ist ein Labyrinth aus eng aneinander gebauten und teilweise ineinander verschachtelten Wohnburgen, den sogenannten Tighremts, die durch das Material und die Bauart den heissen Wüstentemperaturen trotzen.

Gustafson sammelt und archiviert. In ihren poetisch sensiblen Veröffentlichungen zu Pigmenten vermittelt sie einen antropolgischen Ansatz zur Verbindung mit der Natur.


Links: Mehrgeschossige Lehmbauen aus Stampflehm in der Wüstenstadt Aït Benhaddou in Marokko mit aufwendigen Verzierungen
Rechts: Für die 2024 in der Berlinischen Galerie gezeigte Ausstellung „Closer to Nature. Bauen mit Pilz, Baum, Lehm“ hat der „Lehmbaupionier“ Martin Rauch eine Installation aus Stampflehm entworfen