Architekturgeschichten weitererzählen
Erscheinungsdatum: 29.04.2025
Barbara Jahn
Für das Architektenduo Miriam Weyell und Florian Berner entsteht Architektur durch poetische, sinnliche und narrative Räume, Orte und Konstellationen. Das setzt voraus, dass man sich mit dem, was bereits da ist, intensiv auseinandersetzt. Und genau das tun die beiden. Miriam Weyell erzählt in unserem spannenden Interview, wie.

Umbau der Scheune Vogg
Das diesjährige Schwerpunktthema der Architect@Work ist „Transformation“. Was verbinden Sie mit diesem Wort – in Ihrem Grundverständnis und in der Architektur?
Wir arbeiten sehr gerne mit bestehenden Bauten. Sie haben eine Geschichte und erzählen vom Ort, von der Vergangenheit und von den Menschen, die sie erbaut haben. Umbauen ist verbunden mit Vorgaben und Grenzen und bietet gleichzeitig Chancen und Möglichkeiten. Hätte man beim Projekt Umbau Scheune Vogg zum Beispiel Büroräume, Ausstellungsfläche und Verkaufsraum neu gebaut, wäre nie ein Haus mit solch einem beindruckenden Dach entstanden. Der bis zu elf Meter hohe Innenraum der ehemaligen Scheune mit prägnantem Holztragwerk wird so zu einem Luxus, den man sich mit einem Neubau nicht geleistet hätte.
Städte, öffentliche Räume, Proportionen: Sie setzen sich zu Beginn eines Projektes immer sehr intensiv mit dem Ort auseinander. Wie schwierig ist es, Ihr Gegenüber von den Qualitäten eines Ortes zu überzeugen?
Zu Beginn eines Projektes kommen viele Ideen, Träume und Bedürfnisse auf den Tisch. Wir kommen als Architekt*innen von Aussen und nehmen uns Zeit, die unterschiedlichen Bedürfnisse, Gegebenheiten und Vorgaben aufzunehmen und zu analysieren. Zu Beginn arbeiten wir mit Varianten und erklären jeweils, wie hier die Qualitäten des Ortes mit den Bedürfnissen optimal zusammenkommen.


Umbau der Scheune Vogg
In der Auseinandersetzung mit einer Bauaufgabe skizzieren Sie gerne und bauen Modelle. Das ist in der Branche schon seltener geworden. Was schätzen Sie an dieser Arbeitsweise?
Skizzieren ist für uns ein schneller Weg, um Gedanken und Ideen aufs Papier zu bringen. Wir arbeiten sehr gerne in verschiedenen Medien um Ideen zu testen und wechseln im Entwurfsprozess immer wieder zwischen virtuellem Modell, Skizzen und analogem Modellbau. So entwickeln sich die Projekte vielschichtig, da jeweils andere Aspekte durch die Arbeitsweise hervortreten. Skizzieren und Modell bauen sind beides Handwerke und transportieren für uns am direktesten Gedanken und Ideen. Ich bin auch der Überzeugung, dass beim Skizzieren Intuition und Ratio am besten vereint sind. Beim CAD zeichnen kann die Intuition schon mal untergehen. Und da Entwerfen sehr komplex ist, spielt aus meiner Sicht die Intuition, die auf viel mehr Erfahrungen und Wissen als die Vernunft zurückgreifen kann, eine grosse Rolle.
2016 haben Sie beim Festival „Transfer“ mit der Kunstinstallation aus Luftlinien auf den Raum zwischen eng in Beziehung stehender Gebäude aufmerksam gemacht. Was wollten Sie damit ausdrücken?
Das Haus zur Glocke hat uns gegenüber den Wunsch geäußert, zwischen zwei gegenüberliegenden Fachwerkhäusern und über eine Kantonsstraße eine Brücke zu bauen. Wir haben dies umgesetzt in dem wir mit Schnüren drei „Brückenräume“ aufgespannt haben zwischen einem Fenster des Hauses zur Glocke und drei Fenstern des gegenüberliegenden Hauses. Die verwendeten Packschnüre sind weiss und glänzend und spiegeln so ganz fein das Sonnenlicht. Wir haben die Installation selbst umgesetzt und das Spannen der Schnüre über die Straße war eine Herausforderung. Zu Beginn wollten wir mehrere Schnüre auf einmal montieren und auf die gegenüberliegenden Fenster bewegen. Das hat gar nicht geklappt, alles hat sich verheddert und wurde höchst umständlich. Schliesslich haben wir eine Schnur nach der anderen verknotet, hinübergeworfen, hochgezogen, gespannt und wieder verknotet. Am Ende war das ein fast meditatives Vorgehen, das Zeit brauchte aber auch ermöglichte die Installation langsam wachsen zu sehen. Die Installation war für ein paar Wochen geplant, ist aber immer noch dort und mittlerweile sogar im Luftbild erkennbar. Das Projekt Haus zur Glocke, ein Kunsthaus in Steckborn ist sehr ambitioniert und wie die Brücke mit der Zeit gewachsen. Die Brücke symbolisiert die Verbindung zwischen dem Wohnhaus der Initiant*innen und dem Kunsthaus. Gleichzeitig ist sie zum Wahrzeichen für das Haus zur Glocke geworden und verkörpert die Verbindung von Alt/Neu, Gegenwart/Vergangenheit, Kunst/Menschen, Kultur/Stadt, Künstlerehepaar/Kunsthaus.

Luftraumprojekt Steckborn
Würden Sie sagen, dass man mit solchen Kunstaktionen Menschen mehr bewegen, überzeugen, berühren, inspirieren kann als beispielsweise mit Fachvorträgen?
Fachvorträge sind wichtig um die eigene Arbeit und Arbeitsweise zu schildern und in den Austausch mit anderen zu gehen. Nur im Austausch und in der Diskussion miteinander kann man seine Gedanken sortieren, Neues entdecken, entwickeln oder Lösungen finden. Aber ja mit Kunst, Musik, Theater, Architektur kann man mehr Menschen und andere Interessensgruppen erreichen als mit Fachvorträgen.
Eines Ihrer jüngsten Projekte ist der Umbau der Scheune Baumschulen Vogg. Warum könnte das ein zukunftsweisendes Vorzeigeprojekt werden?
Wir haben hier mit wenigen Mitteln eine alte Scheune so transformiert, dass sie heute dem Betrieb eine ganz neue Funktion und Identität gibt. Die Scheune wurde von Einbauten befreit und nach vorne hin durch Öffnungen im Fachwerk belichtet, so kommen der hohe Innenraum und das Holztragwerk zur Geltung. Die beheizten Büroräume sind als Haus im Haus hineingesetzt, so dass der Bestand ungedämmt und unverändert bleibt. Das hinzugefügte Vordach mit einer Polycarbonat Holzfassade gibt der Scheune ein neues Gesicht. Das Konzept ist zum einen nachhaltig, da der Bestand erhalten bleibt und nur wenig neues Material verbaut wurde. Zum anderen wird die Kultur des Ortes mit der Scheune erhalten und weiterentwickelt. Was bereits gebaut ist, sollte aus unserer Sicht immer mindestens gedanklich bestenfalls real in Neubauprojekte miteinbezogen werden, Städte sollten in diesem Sinne weitergebaut und weiterentwickelt werden.

Umbau der Scheune Vogg
Was waren dabei die größten Herausforderungen? Stand ein Abriss im Raum?
Die Eigentümer der Baumschulen Vogg standen der bestehenden Scheune zum Glück mit grosser Wertschätzung gegenüber. Einen Abriss haben wir zu Beginn kurz diskutiert, wurde jedoch schnell verworfen. Eine grosse Herausforderung war die Statik und ein freitragendes Vordach in Einklang mit der bestehenden Fachwerkstruktur zu bringen. Wir wollten die bestehende Grundstruktur im selben Material weiterbauen und nicht technische Hilfskonstruktionen einbauen. Dieses weiterbauen mit massiven Holzstützen und Trägern prägt den heutigen Innenraum. Sehr lehrreich für uns war auch die gestalterische Leitung aus der Distanz. Hier gilt es zu entscheiden welche Details für das Gesamtprojekt wirklich relevant sind und welche in der Wahrnehmung und Wichtigkeit eine untergeordnete Rolle spielen.
Warum war es Ihnen ein so großes Anliegen, die Silhouette der Scheune zu erhalten?
Die Scheune steht ganz selbstbewusst an ihrem Ort und bildet mit ihrem Giebel zusammen mit dem Wohnhaus einen kleinen Platz. Sie hat ein schönes zweigeschossiges Satteldach, das unberührt bleibt und ganz in Ruhe von seiner Geschichte als Nutzbau erzählen. Den Baukörper im ländlichen Umfeld erhalten zu können war uns wichtig.

Das Intarsienhaus
Auch das Intarsienhaus ist ein Projekt, bei dem ein Gebäude ein zweites Leben bekam. Was war hier das Erhaltenswerte und Ihre Vision dazu?
Das Ehepaar hat das Wohnhaus der Familie der Frau und ihrer Kindheit übernommen und gemeinsam haben sie es umgebaut zum eigenen Haus. Zum einen ist das Haus mit vielen Erinnerungen verbunden zum anderen bestand der Wunsch ein eignes Heim zu schaffen, das ihren Bedürfnissen entspricht. Das Haus ist Teil eines Ensembles und wir haben darauf geachtet, dass dies weiterhin abgelesen werden kann. Es wurde zum Beispiel auf eine Dämmung der Fassade verzichtet, um die feine Gliederung und steinerne Außenwand zu erhalten. Die Anbauten wurden bewusst im Holzbau erstellt mit vertikal gegliederter Holzfassade, um einen Kontrast zu der steinernen Fassade zu bilden. Im Inneren wurden die Bodenbeläge und Holzdecken der Zimmer erhalten. Wie Intarsien erzählt der Patchwork-bodenbelag und die verschiedenen Deckenniveaus die Geschichte der früheren Nutzung.
Woher kommt die Leidenschaft, eine gebaute Geschichte weiterzuschreiben?
Wir sind als Menschen für eine Zeit zu Besuch hier auf der Erde. Bauten stehen zum Teil schon über mehrere hundert Jahre und werden im Idealfall immer weiter und unterschiedlich genutzt. In diesem Rahmen bewegen wir uns, wenn wir als Architekt*innen planen. Auch mit Neubauten wird eine Stadt weiterentwickelt, die Geschichte weitergeschrieben. Es ist wichtig sich dies beim Planungsprozess bewusst zu machen.

Das Intarsienhaus
Was macht Abriss und Neubau mit einem Ort?
Es kommt darauf an, in welchem Kontext neu gebaut wird. Neubauten bieten manchmal auch eine Chance den Ort aufzuwerten, zu verdichten. Die Gefahr bei Abriss und Neubau besteht in einem Identitätsverlust des Quartiers und natürlich einem Verlust von Kulturerbe. Oft werden schöne und gestalterisch hochwertige Ensembles abgerissen, um für einen Neubau Platz zu machen. In der Regel finden wir Lösungen mit dem Bestand. Wir freuen uns, die Geschichte mit vorhandenen Strukturen weiterschreiben zu dürfen.
Würden Sie Bauen im Bestand immer den Vorzug geben?
Wann immer es möglich ist, ja. Das hängt stark von der Qualität des bestehenden Baus ab. Wir sehen es als unsere Aufgabe durch kreative Lösungsansätze nachhaltig und wirtschaftlich zu bauen. Wenn zum Beispiel nur ein kleiner schlecht erhaltener Bau vorhanden ist und durch den Erhalt unvermeidbar ein zu grosser Mehraufwand im Bauen entsteht, macht es im Einzelfall Sinn abzureißen.

Installation „Die andere Gegenwart“
Ist Bauen im / mit dem Bestand für Sie die Zukunft der (nachhaltigen) Architektur? Und worin liegt das Potenzial?
Bauen im Bestand hat viele Potenziale: es muss viel weniger Material verwendet werden und ist somit nachhaltiger, die Identität des Ortes kann weiterentwickelt werden. Das Umnutzen eines Bauwerks führt zu einzigartigen Räumen, die sich die Nutzer*innen aneignen können. Außerdem sprechen Bauten mit dem Bestand die Sinne an, Materialien, Licht, Raum werden lebendiger mit der Vielfältigkeit, die ein Weiterbauen bieten kann. Roland Barthes beschreibt mit der Definition von Acolouthia die Räume «in welchen sich die Ideen mit Gefühlen mischen, wenn Freund*innen, dadurch, dass sie uns im Leben begleiten, uns ermöglichen zu denken, zu schreiben und zu sprechen.»* Wir planen Räume, die Menschen zusammenbringen und den kreativen Austausch untereinander fördern.
"Acolouthia : Je voudrais désigner par ce mot ce champ rare où les idées se pénètrent d’affectivité, où les amis, par le cortège dont ils accompagnent votre vie, vous permettent de penser, d’écrire, de parler." Roland Barthes, Œuvres complètes V, livres, textes, entretiens, 1977-1980, nouvelle édition revue
Im Rahmen der Zürcher Edition der ARCHITECT@WORK wird Miriam Weyell am 07. Mai 2025 um 15 Uhr einen Vortrag mit dem Titel „Acolouthia“ halten.
Weitere Infos zum Vortrag finden Sie hier.